Corona Glossar: Krakelee und Krakeelen

Meine Großmutter hatte im Esszimmer auf dem Sideboard eine Vase stehen. Sie war bauchig, altweiß und sah aus, als sei sie aus unzähligen kleinen und größeren Einzelstückchen, Scherben und Teilen zusammengesetzt worden. In der Vase waren immer Blumen – oft rosa Nelken, die Lieblingsblumen meiner Oma.

Als Kind war ich fasziniert von der Vase, bin mit den Augen – und manchmal auch verbotenerweise mit den Fingern – entlang der dunklen Risse gewandert und habe mich gefragt, wer die Vase wohl kaputt gemacht hatte. Mit Gruseln malte ich mir das Donnerwetter aus, das es wegen der Scherben gegeben haben musste. Und ich stellte mir meine Oma vor, die die Scherben wieder zusammenklebte.

Die Vase ist aber nie in tausend Stücke zerbrochen. Die Vase war intakt, die Risse nur auf der Oberfläche; entstanden beim Brennen der Keramikglasur. Ein optischer Effekt, der Krakelee genannt wird.

Risse und Linien auf der Oberfläche eines Gegenstandes, der darunter intakt und funktionsfähig ist. Risse und Linien, die sich manchmal wie tiefe Gräben anfühlen, entdecke ich immer häufiger um mich herum.

Es hat sich eine kleine, sehr laute Minderheit an krakeelenden Coronaleugner:innen, Verschwörungstheoretiker:innen und Impfgegner:innen von der Mehrheit abgesetzt. Diesen paar tausenden medial präsenten, illegal demonstrierenden und sich in einer Parallelwelt befindenden Menschen stehen gleichzeitig aber Millionen Geimpfte gegenüber – zum Beispiel wurden am 16. Dezember 2021 knapp 1,5 Millionen Menschen erst- oder zweitgeimpft bzw. geboostert. Gespalten ist die Gesellschaft daher nicht, vielmehr könnte eine Scherbe, ein Splitter abgesprungen sein – der freilich scharfe Kanten haben und tiefe Verletzungen verursachen könnte.

Auch im großen Ganzen bemerke ich Risse und sehe eine zunehmende Teambildung unter Rubriken wie: „Vorsicht“, „Umsicht“, „2G Doppelplus“, „Jetzt reicht es aber wirklich“, „Solidarität“, „Mütend“, „Ist ja alles eh‘ egal“, „Nur ein Schnupfen“, etc. Ausgeprägte Meinungen prallen aufeinander. Argumente zählen nicht, es wird nicht miteinander geredet, sondern aufeinander eingeredet:

  • Geimpft und geboostert muss reichen – wozu also noch Tests, die sowieso unsicher sind.
  • Das Virus ist ungefährlich für die Kinder, eine Impfung daher unnötig.
  • Die Krankenhäuser sind nicht überlastet – Freedom-Day jetzt.
  • Alle in Europa öffnen, nur die Deutschen sind zu ängstlich.
  • Wir müssen jetzt endlich lernen mit dem Virus zu leben, außerdem ist es ja unbestrittene Tatsache, dass jeder irgendwann einmal sterben muss.
  • Milder Verlauf bei Omikron, alles halb so wild – lasst das Virus laufen.
  • Long-Covid ist Quatsch, die sollen sich einfach mal ein bisschen zusammenreißen.
  • Bloß nicht von Medizinern, Virologen oder dem Gesundheitsminister verrückt machen lassen – lieber mal den eigenen gesunden Menschenverstand einschalten.
  • Eigenverantwortung ist das Gebot der Stunde – und wer meint, er oder sie müsse sich weiter schützen, dem ist es ja unbenommen sich zuhause einzuschließen.

Trennlinien durch unsere Gesellschaft, allerlei Gruppen, Gruppierungen, Meinungen und Teams gab es natürlich auch vor der Coronapandemie. Die Pandemie scheint aber wie ein Brennofen zu wirken. Bis dato nur angedeutetes Krakelee bricht auf und wird deutlich sichtbar. Bislang zusammenhängende Teile erhalten neue Risse, die Einzelteile werden kleiner und Grenzen treten schärfer und deutlicher hervor. Die Stimmen werden lauter.

Ich hoffe, dass das Krakelee in unserer Gesellschaft oberflächlich bleibt und mit Abebben der Pandemie auch wieder verblasst.

Ich hoffe, dass unsere Gesellschaft unter all dem Krakelee intakt bleibt.

Und wenn die Risse doch tiefer gehen sollten, dann hoffe ich, dass sich mit Kintsugi die Gesellschaft kitten lassen wird: Es ist eine japanische Technik, zersprungenes Geschirr oder Keramik zu reparieren. Die Bruchstellen aber bleiben dabei sichtbar – der Makel wird zum individuellen Merkmal, das mit Gold hervorgehoben wird. Schadhaftes wird aufgewertet, Unvollkommenes wertvoll.

Krakelee, das (Substantiv, Neutrum) auch Craquelé

Bedeutung

  1. Kreppgewebe mit rissiger, narbiger Oberfläche
  2. feine Haarrisse in der Glasur von Keramiken oder auf Glas

Herkunft

französisch craquelé, eigentlich = rissig, zu: craqueler = rissig machen, zu: craquer = krachen

krakeelen (schwaches Verb, umgangssprachlich abwertend)

Bedeutung

laut schreien [um Streit anzufangen]; lautstark schimpfen; sich lautstark streiten

 

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