Bestialische Geschichten

Dem kuscheligen Cafésaal des Begegnungs- und Servicezentrums Fechenheim an der Langgass ist noch nicht anzumerken, dass hier gleich die Bestien los sein werden. Nach und nach füllt sich der Raum mit letztendlich um die 25 Zuhörer:innen, die auf Einladung des Vereins PolymerFM zum „Poesiesalon“ gekommen sind. Man begrüßt Bekannte und Freunde, manche mit Maske, manche mit Küsschen, Corona gegen soziales Miteinander steht gerade unentschieden.

Ungewöhnlich für eine Dichterlesung: Vorne steht ein Bild auf einer Leinwand. Und zusammen mit der Autorin des heutigen Abends, Sabine Hagemann, sitzt die Illustratorin und Malerin Mariia Bykova, über die wir kürzlich berichteten, mit am Vorlesetisch. Sabine Lauer, die Vorsitzende von PolymerFM, begrüßt die Gäste und bringt ein wenig Licht ins Dunkel: Die Erzählungen von Sabine Hagemann sind direkt inspiriert von Mariia Bykovas Bilderserie „Bestiarium der Quarantäne“, die gemeinsam mit industriearchitektonischen Zeichnungen und Bildern von Fechenheimer Häusern im Kulturpavillon Friedhof Fechenheim zu sehen waren. Ihre „Bestien“ sind Mischwesen aus Mensch, Tier und Fabelwesen wie Einhörnern und Melusinen und entstammen mittelalterlichen Illustrationen, wie sie sich häufig am Rand von religiösen Texten fanden. Ungefähr 200 Menschen besuchten die Ausstellung bis zum 1. Mai, was für einen etwas abseits gelegenen Ausstellungsort ein außerordentlicher Erfolg ist, wie Sabine Lauer anmerkte. Am heutigen Abend hört die ukrainische Malerin die Geschichten zu ihren Bildern ebenso wie das Publikum zum ersten Mal. Man merkt ihr die Aufregung an.

Aber erst einmal eine Irritation:  Sabine Hagemann beginnt die Lesung mit einer Mitteilung der Polizei. Es wird vor zwei Trickbetrügerinnen gewarnt, die Fechenheim mit der Verbreitung von Märchen und Illusionen heimsuchen und dabei womöglich falsche Bärte tragen.

„Glauben Sie nicht alles, was sie hören oder sehen….“. Ich gebe zu, dass ich erst nach einer Weile bemerkt habe, dass das „Fahndungsfoto“ der beiden Schurkinnen schon auf der Staffelei zu sehen war.

Mit diesem gelungenen Einstand wird deutlich, wie die Autorin mit den Bildern arbeitet. Eine spontane Assoziation bildet den Anker und daraus spinnt sie die Geschichte weiter. Diese kann in der sehr konkreten Welt unserer Gegenwart ankommen (wie in der Polizeimitteilung), in einem kompletten Märchenuniversum verharren (Das Gift) oder irgendwo dazwischen (Der Augenwinkel).

Die Spannbreite der Märchenerzählungen erstreckt sich von der gruseligen Komik der „Essensfrage“, wo ein kleines Skelett seine erwachsenen Skelett-Eltern mit der Forderung nach „Spaghetti!!“ in den postmortalen Wahnsinn treibt, über einen skurrilen Talentwettbewerb mit zwei Hasen als leicht beschränkte Juroren (Der Entertainer) bis hin zu der traurig schönen Geschichte eines Ritters der die Isolation und Einsamkeit in Kauf nimmt, um ein Versprechen zur Wahrung eines Geheimnisses zu halten (Das Geheimnis).

In „Der Buchmaler“ wird ein mittelalterlicher Mönch zusammen mit seinen Figuren in freudiger Gemeinschaftlichkeit in sein eigenes Buch hineingezogen. die beiden „Alphabete vorwärts & rückwärts“ sind mehr streng formale Gedichte als Geschichten und verwandeln die wuselnde Vielfalt der abgebildeten „Bestis“, wie Hagemann sie nennt, in Sprachklang.

Vielleicht ist die Autorin auch ein Fall von umgekehrter Synästhesie: Anstatt Töne als Farben wahrzunehmen, kann sie in Farben und Formen Klänge wahrnehmen (Der Klang)

Den Abschluss der „Bildinterpretationen“ bildet eine lyrische Erzählung, die sich fast schon philosophisch mit dem unweigerlichen Wechsel von Glück und Unglück beschäftigt (Das Glück) und ein klein wenig wie ein melancholischer Kommentar zum Zeitgeschehen wirkt.

  • Ganz zum Schluss bietet die Autorin noch mit einer Improvisation einen Einblick in ihre Arbeitsweise. Vor der Pause wurden die Zuhörer gebeten, ihr spontan fünf Substantive oder Verben zuzurufen. Aus den Zutaten gestaltete sie dann eine weitere Geschichte zu einem weiteren von Mariia Bykovas Bildern.

Das Publikum ist begeistert. Bei der anschließenden Ausstellung und dem Verkauf von Drucken der Exponate wird deutlich, wie sehr die Erzählungen die Bilder unterstützen, nicht zuletzt, indem sie ihnen erstmals Namen geben.

Wer einige von  Sabine Hagemanns Geschichten noch einmal nachlesen will, kann sie sich hier als .pdf Datei herunterladen:

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