Zum 9. November: Biedermann oder Brandstifter?

Es gibt sie wieder vermehrt, diese Stimmen, jetzt sollte doch endlich EINFÜRALLEMAL Ruhe sein mit diesen alten Geschichten, was haben wir heute damit zu tun und überhaupt sind ja jetzt auch fast alle Nazis tot.

Wirklich?

Wer meint, die Abwesenheit von braunen und schwarzen Uniformen in Springerstiefeln im Alltag sei ein Zeichen für das Verschwinden von rechtsradikalem und antisemitischem Gedankengut, der irrt.

Antisemitische Vorfälle und Gewalttaten sind in Deutschland seit einigen Jahren wieder auf dem Vormarsch. Im Coronajahr 2020 wurde trotz Ausgangssperren mit 2351 Taten ein neuer Spitzenwert registriert, 57 davon waren Gewaltverbrechen. Der Angriff auf die Synagoge in Halle mit zwei Toten im Jahr zuvor weist wie ein Menetekel an der Wand auf das, was uns noch bevorstehen könnte.

Dazu kommen gewalttätige Übergriffe auf Menschen mit Migrationshintergrund mit dem schrecklichen Höhepunkt des Attentats in Hanau 2020, bei dem elf Menschen getötet wurden.

Neben der AfD, die sich seit einigen Jahren aktiv darum bemüht, die Hemmschwellen der Deutschen in Bezug auf rechtsradikales Gedankengut mit wohlgeplanten Grenzüberschreitungen1) abzubauen, sind aus der Szene der Corona-Leugner und „Querdenker“ neue Gruppierungen und eine Partei („Die Basis“) hervorgegangen, die mit ihren abstrusen Verschwörungserzählungen alte antisemitische Mythen unter neuem Anstrich wiederbeleben.2)

Heißt das, jeder Impfgegner und Kritiker der Coronamaßnahmen ist automatisch ein Nazi?

Nein, aber…
Mir ist zu der heutigen Situation ein Theaterstück von Max Frisch aus dem Jahr 1958 eingefallen: „Biedermann und die Brandstifter“ erzählt die Geschichte eines honorigen Bürgers, der zulässt, dass sich Brandstifter in seinem Haus einquartieren und dort, auch für ihn völlig offensichtlich, Vorbereitungen treffen es anzuzünden. Zum Schluss hilft er ihnen noch bei der Anfertigung der Zündkapsel und reicht ihnen die Streichhölzer.

Die aktiven „Brandstifter“ heute sind sehr klar zu benennen (s.o.) und immer noch eine kleine Minderheit, die sich allerdings mehr und mehr in die Öffentlichkeit traut, weil die „Biedermänner“ es ihnen erlauben. Die „Biedermänner und -frauen“ findet man in allen Parteien und sozialen Schichten und sie häufen Gedanken und Taten an, die einmal gut brennen werden, wenn die Brandstifter zur Tat schreiten.

Hervorragend brennbares Material ergibt da zunächst jede Art von Verächtlichmachung und Diskriminierung von Menschen aus anderen Kulturen sowie anderer Lebensformen und sexueller Orientierung. Auch wenn es manchmal etwas verschämt als „gewisse Leute“ oder mit einem „das kann man doch mal so offen sagen“ daherkommt.

Aber auch tolerante Mitbürger können wunderbar zu einem zukünftigen Scheiterhaufen unserer Demokratie beitragen, wenn sie aufhören, zwischen wissenschaftlichen Tatsachen und Fakten auf der einen Seite und Meinungen und Empfindungen auf der anderen zu unterscheiden. Rechte lieben Irrationalität, die kann man so gut mit allen möglichen Horrorgeschichten befeuern, wahr braucht es ja nicht zu sein.

Sehr populär an allen Ecken und Enden ist auch die pauschale Politikerschelte. „DIE“ bereichern sich alle, können nix, sind zu langsam oder zu schnell (je nachdem), sind alle machtgeil und vertreten nicht unsere Interessen. Wobei stillschweigend davon ausgegangen wird, dass „unsere“ Interessen mit denen der anderen 60,4 Millionen Wahlberechtigten in Deutschland identisch sind.

Spätestens seit den Bildern des Sturms auf das amerikanische Kapitol vom 6. Januar 2021 (und kurz vorher auf den Sitz des Bundestages in Berlin nach einer Querdenker Demo) sollte sich jeder und jede sehr klar darüber sein, dass unser politisches System der parlamentarischen Demokratie keine Selbstverständlichkeit ist und die aktive Verteidigung durch seine Bürger braucht.

Um zu wissen, wie die Alternativen aussehen, hilft ein Blick in die Jahre nach 1933, auch in Fechenheim.

 1) „So rechtsradikal ist die AfD wirklich“  29.10.2021 von „der volksverpetzer“
2)
„Das muss man auch mal ganz klar benennen dürfen“ Verschwörungsdenken und Antisemitismus im Kontext von Corona von der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Bayern (RIAS) – gibt es bei „Bücher vorOrt“ kostenfrei als Broschüre

Buchempfehlungen:
Michael Kraske, „Tatworte, Denn AfD & Co. meinen, was sie sagen“, Ullstein Verlag
Timothy Snyder, „Über Tyrannei – illustrierte Ausgabe“, C.H.Beck Verlag